Donnerstag, 17. Oktober 2013

Ghost Dog am Neujahrstag

Die Welt war aus den Fugen geraten und mein Kopf war eine tickende Zeitbombe. Es war Neujahrstag. Silvester dauerte bis sechs Uhr morgens und das neue Jahr begann für mich so wie das alte endete. Besoffen und deprimiert. Ich war jung und steckte alles weg. Bier. Wein. Drinks. Cocktails. Noch mehr Bier zum runterkommen. Feierwütige Leute. Spassmenschen. Mitternachtscountdown. Laute Musik. Anstossen mit Schampus. Sich in den Armen liegende Fremde. Glückliche Gesichter. Dämliche Gespräche während dem Pissen. Misslungene Flirtversuche. Abdrehen. Austicken. Abschalten. 

Ich hatte Kummer und ein schlechtes Jahr hinter mir. Kein Geld, keine Perspektiven, keine Frauen. Mein Leben lag noch vor mir und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. So kulminierte ein Jahr voller Enttäuschungen in einer Nacht ohne Rücksicht auf Verluste. Als ich am Mittag aufwachte, schien mir das Leben nur noch begrenzt lebenswert zu sein. Ich schleppte mich aufs Sofa und stierte wie ein hirnloses Zombie in die Glotze. Stand eine halbe Stunde lang unter der Dusche. Betrachtete die graue, kalte Winterlandschaft. Befand die Welt für hässlich. Trank ein paar Gläser Milch und rannte aufs Klo um zu kotzen. Es gab nichts, was ich tun konnte. Ich war aufgekratzt. Fühlte mich elend und rastlos. Ich spielte mit dem Gedanken, ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, aber mein Magen war dagegen. Ich nahm meine Küchenmesser aus der Schublade und versorgte sie wieder. Die Zeit verging grauenhaft langsam. 

Ich durchstöberte meine Filmsammlung und entschied mich für Ghost Dog. Forest Whitaker fütterte Tauben und befolgte den Samuraicodex. Er ging Eis essen und legte einen Kerl um. Dann killten sie seine Tauben und er killte ein paar Kerle, die einen Bären gekillt haben. Er ging nochmals Eis essen und wurde gekillt. Ghost Dog war tot und mein Kater lebte immer noch. Es war unerträglich. Ich war nicht halb so gut wie ein Samurai. Aber ich fühlte mich wie einer. Alleine in meiner kleinen Wohnung. Unordentlich wie ein Taubenschlag, nur weniger verkackt. Mir fehlten die Ideale, für die es sich zu kämpfen lohnte. Von Fürsten hielt ich nicht viel. Der Film hatte mich noch mehr aufgewühlt, ich musste raus. Ich schnappte mir meine Autoschlüssel, stieg ins Auto und fuhr los. 

Mit laut aufgedrehter Musik fuhr ich durch den ersten Nachmittag des Jahres. Die Sonne war bereits am untergehen. Vor der Autobahn überlegte ich kurz, ob ich zum Geisterfahrer werden sollte, wenn ich schon kein Ghost Dog sein konnte. Ich liess es bleiben und fuhr normal weiter. Ohne Ziel. Wie immer. Kurz überlegte ich, ob ich gar nicht mehr umdrehen sollte. Bis Frankreich fahren. Oder noch weiter. Aber nach einer Stunde hatte ich genug. Mein Kater und meine Müdigkeit bewogen mich umzudrehen, also fuhr ich wieder heim. Zuhause angekommen, suchte ich das Hagakure, den Ehrencodex der Samurai aus meinem Bücherregal und blätterte darin. Ich versuchte darin eine Antwort, einen Sinn oder etwas Trost zu finden. Vergebens. Der Tag war nicht mehr zu retten. Aber ich hatte noch viele Tage vor mir, um etwas aus diesem Jahr zu machen. Das gelang mir dann schliesslich auch.

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