Montag, 24. September 2018

Zerzauster Kauz

Ich bin ein grauer Kauz mit zerzaustem Haupthaar. Der Wind schnaubt durch das Laub und schnurrt zwischen meinen Beinen hindurch wie eine hungrige Katze. Der Mantel zu dünn für diese Jahreszeit, der Bauch zu dick zu jeder Zeit. Die Temperaturen sinken, die Menschen werden blasser. Meine Laune steigt.
Ein festliches Gefühl spiegelt sich in den melancholischen Augen, den zentnerschweren Mundwinkeln, den sorgenumwobenen Stirnfalten. Willkommen in meiner Welt, liebe Mitbürger. Freundlich grüsse ich die alten Damen vor dem Café, den schlotternden Polizisten an der Kreuzung, den finsteren Bauarbeiter im Bagger. Mit heissen Händen kratze ich mich im Schritt, strecke meinen Rücken durch, die Brust raus und schreite königlich voran. Ein Bus hält vor mir um eine Schar Schulkinder in seinen warmen Schlund zu saugen. Auf, in die muffigen Studierstuben! Auf, in die Fabriken der Gleichförmigkeit! Auf, auf, Kinder, umarmt das Graue. Ein Briefträger klappert mit seiner Mopete um die Ecke und schleppt Rechnungen, Amtsbescheide und Reklamesendungen von Haus zu Haus. Wie Giftschlangen lauern die bedrohlichen Umschläge in den Briefkästen, bereit einem schutzlosen Opfer den Tag zu vermiesen. Ich gehe in eine Bäckerei, bestelle mir einen schwarzen Kaffee mit einem Croissant und stelle mich an einen Stehtisch. Mit einem Kribbeln beobachte ich die Menschen, die eintreten und sich für einen Moment vom Elend ablenken. Mit glänzenden Äuglein begutachten sie die üppige Auslage. All die duftenden Brote, die Kringel, die Kuchen, der komprimierte Zucker in niedlichen Formen. Eine neue Welt der Möglichkeiten geht für sie auf. Nur einen kurzen Moment scheint alles möglich. Als sei das Gute in Griffweite und das Übel so fern wie ein böser Traum. Das Fräulein hinter dem Tresen beäugt mich. Muss mein Grinsen sein. Ich glätte meine Züge und suche tief in mir etwas Haltung. Ich schlürfe die Brühe aus, deute einen Abschiedsgruss an und lächle beim hinausgehen. Ein herrlicher Morgen, wirklich wunderbar! Ich überquere die Strasse und biege um die Ecke. Der Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Augen bilden Tränen, meine Nase läuft. Scheisse, ich bin glücklich!

1 Kommentar:

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